Manuel Izdebski von der Deutschen AIDS-Hilfe hat mich zur Medienresonanz auf das Coming-Out von Thomas Hitzlsperger interviewt. Hier gibt es das ganze Interview: https://www.aidshilfe-unna.de/content/hitzlspergers-coming-out
Wohl selten hat ein Coming-out für so viel Aufmerksamkeit gesorgt, wie das von Thomas Hitzlsperger vor einigen Wochen. Seither beschäftigt das Thema fast alle Medien. Wir haben mit dem Kommunikationswissenschaftler Richard Lemke (Foto) von der Gutenberg-Universität in Mainz über das “Coming-out des Jahres” und die hervorgerufenen Reaktionen gesprochen.
Richard, nachdem sich der Wirbel um das Coming-out von Thomas Hitzlsperger ein wenig gelegt hat, wollen wir einen sachlichen Blick auf den Vorgang werfen. Das Echo in den Medien war gewaltig. Wie ist das erklärbar?
Die gewaltige Medienresonanz kann man sehr gut durch den Aspekt der Anschlussfähigkeit dieses Ereignisses, also Hitzlspergers Outing, erklären. So plötzlich dieses Outing einerseits auch war, so passierte es trotzdem nicht in einem thematisch luftleeren Raum. Vorangegangen waren nun einige Jahre, in denen männliche Homosexualität im Fußball und Spekulationen über homosexuelle Spieler immer mal wieder ein Thema in der Medienberichterstattung waren. Man denke auch nur an die diversen Kampagnen und Statements prominenter Fußballer. Das Outing schloss also an eine gewaltige Erwartungshaltung an, die sich im Journalismus und vermutlich auch in der Bevölkerung aufgebaut hatte. Viele Journalisten hatten ja jetzt in Erwartung eines ersten Profi-Outings schon längst einiges zu dem Thema in der Schublade.
Entspricht es auch deinem Eindruck, dass die Medien überwiegend sehr positiv berichtet haben, wenn man von ganz wenigen Ausnahmen in der Presse absieht?
Das ist auch mein Eindruck, ja. Im Wesentlichen hätte ich auch nichts anderes erwartet. Wir werden die Berichterstattung aber in einem Seminar unseres Studiengangs noch durch eine quantitative Medien-Inhaltsanalyse genauer analysieren.
In der Community hat Hitzlsperger für einen kollektiven Freudentaumel gesorgt. Woher kommt diese Sehnsucht der Schwulen nach einem homosexuellen Profikicker? Wieso ist ausgerechnet das für die Community so wichtig?
Ich glaube, dass ihr eine ganze Reihe an Sehnsüchten eine Rolle spielen und es darauf keine einheitliche Antwort gibt. Für viele schwule Männer ist es sicherlich nach wie vor ein wichtiges Gefühl, dass männliche Homosexualität in allen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar wird, auch in den klassisch sehr männlichen Domänen. Es entsteht dadurch ja das von vielen ersehnte Bild, dass Homosexualität etwas ganz normales ist und nicht auf die inzwischen klassisch schwulen Kreativberufe beschränkt ist. Denkbar ist natürlich auch, dass für einige in der Community die Freude dadurch entsteht, dass ihnen der Fußballer als erotisches Objekt dadurch erreichbarer scheint. (schmunzelt)
Ist man vor lauter Glücksgefühl sehr nachsichtig gewesen und hat das mit dem aktiven Kicker großzügig übersehen? Streng genommen ist Hitzlsperger ja „nur“ ein Ex-Profi.
Für den Einfluss der Berichterstattung auf das gesellschaftliche Bild von Homosexuellen halte ehrlich gesagt auch ich diesen Unterschied für vernachlässigbar. Denn Hitzlsperger war schließlich mal Profispieler und damit ist bewiesen, dass es Homosexualität in diesen Kreisen gibt. Unabhängig davon, dass die konkrete Person nun schon nicht mehr aktiver Fußballprofi ist. Auch die vielen Fotos aus seiner aktiven Zeit, die jetzt reaktiviert wurden, tragen ja dazu bei, dass man als Medienrezipient nun eine Verknüpfung zwischen Profifußball einerseits und einem homosexuellen Mann implantiert bekommen hat.
Wenn Hitzlsperger sagt, dass er für die jungen, noch aktiven Spieler ein Vorbild sein will, passt diese Aussage zu seinem Handeln? Er selbst hat sich schließlich erst nach der Karriere geoutet und zusätzlich erklärt, das sei der beste Zeitpunkt gewesen. Ist das kein Widerspruch?
Das ist eine ziemlich normative Frage, weil sie impliziert, dass es einen richtigen oder richtigeren Umgang mit Homosexualität und deren öffentlicher Verkündung im Fußball gäbe und hier gegeben hätte. Natürlich haben wir als Idealbild, dass in hoffentlich naher Zukunft auch ein aktiver Profi-Fußballer sagen kann „Ich bin schwul“, ohne Angst zu haben, von einer Horde falscher Fans genau dafür verprügelt oder vor verachtenden Chören im Stadion in die Verzweiflung getrieben zu werden. Dieses Ideal erreicht man aber nicht von heute auf morgen, sondern es ist das Ergebnis eines Prozesses, in dem Homosexualität immer selbstverständlicher mit allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens subtil verknüpft wird. Und in diesem Prozess hat Hitzlsperger einen wichtigen Schritt getan. Einige nennen sein Warten bis nach der aktiven Zeit feige, das halte ich aber für völlig unangemessen. Die Angst vor den Effekten, die ein Outing in der aktiven Fußballer-Zeit haben kann, ist überaus berechtigt, denn schlimmstenfalls führen sie zu einem vorzeitigen Ende dessen, was die große Leidenschaft ist: Fußballspielen. Das kann man nicht einfach ignorieren. Und ich denke außerdem, dass Hitzlsperger durchaus jungen Profispielern mit seinem Outing Mut macht und sich der nächste Profispieler vielleicht schon ein oder zwei Jahre vor Ende seiner aktiven Zeit outet. Dann können wir die nächste Ebene an Reaktionen beobachten.
Du beschäftigst Dich in der Kommunikationswissenschaft mit der Wirkung von Medien. Hat Hitzlsperger mit seinem Coming-out denn etwas für die Akzeptanz von Schwulen und Lesben bewirkt?
Aber sicher. Die Medien vermitteln uns auf subtile Art ein Bild davon, was in der Welt da draußen normal und verbreitet ist und was zusammengehört. Sie ersetzen dabei unsere persönliche Erfahrung dort, wo wir keine persönliche Erfahrung machen oder machen können. Wenn ich über lange Zeit besonders viele Krimiserien schaue, dann schätze ich die Häufigkeit von Straftaten höher ein. Wenn ich in Zeitungsartikeln über Gewalt an Schulen immer im gleichen Artikel auch von Migranten lese, dann gehört das für mich irgendwann selbstverständlich zusammen. Ohne dass dies ein reflektierter, also überlegter Prozess wäre. In der Kommunikationswissenschaft nennen wir diese subtilen Wirkungsweisen Kultivierung und Framing. Und dazu hat dieses Outing einen ersten Anstoß gegeben. Das Bild, das die Menschen über „den Homosexuellen als solchen“ durch Medien kultivieren, wird durch diesen Aspekt nun reichhaltiger und ihnen selbst als Person vielleicht auch näher. Die Idee dieser subtilen Medienbilder als Ersatz für persönliche Erfahrung steht ja auch schon hinter dem grandiosen Dokumentarfilm „Ich kenn keinen – allein unter Heteros“ über schwules Leben im ländlichen Schwaben.
Eine Wirkung war aber auch, dass sich viele Homophobe im Kommentarbereich der Online-Medien regelrecht ausgetobt haben. Für einige Zeitgenossen muss das Coming- out von Hitzlsperger eine schreckliche Angelegenheit sein, oder?
Leser-Kommentare auf Nachrichtenwebsites haben eine ganz spezielle Dynamik und man darf da nicht jeden einzelnen Kommentar ganz ernst nehmen. Auch Martin Dannecker und ich haben bei Berichten über unsere Studien da schon so einiges lesen müssen. Mein Kollege Marc Ziegele forscht sehr intensiv zu diesem Phänomen der Leser-Kommentare und was Nutzer zu verschiedenen Äußerungen bewegt.
Aber natürlich gibt es in allen Bereichen unserer Gesellschaft nach wie vor eine wahrnehmbare Menge an Mitbürgern, die – aus welchen verschiedenen Gründen auch immer – tief antihomosexuelle Meinungen und Einstellungen haben und trotzdem im Alltag gezwungen sind, mit Homosexuellen umzugehen. Weil sie vielleicht einen schwulen Chef, Nachbarn oder einen schwulen Bruder haben, zu dem sie großen Hass empfinden. Und für diese Menschen ist es dann natürlich tatsächlich ein erhebliches Problem, wenn sie Angst bekommen müssen, auch in anderen Bereichen ihres Alltags nicht mehr vor Homosexuellen sicher zu sein. Die würden jetzt am liebsten schnell die Strickleiter hochziehen, weil die Mädchen ihr Baumhaus entdeckt haben. Eine ähnliche Hysterie können wir ja gerade auch bei dem Vorstoß, homosexuelle Lebensweisen in der Schule selbstverständlicher einzubinden, beobachten.
Aber ganz genau aus diesem Grund brauchen wir die Prozesse öffentlicher Darstellung und Wahrnehmung von Homosexualität, die ich eben erwähnt habe.
Wie schätzt du die Lage ein? Ist ein Coming-out für noch aktive Spieler durch Hitzlsperger nun etwas einfacher geworden? Oder anders gefragt: Wird der schwule Kicker auf dem Platz noch lange auf sich warten lassen?
Da kann ich wirklich nur spekulieren. Der gewaltige öffentliche Zuspruch, den Hitzlsperger nun erfahren hat, begünstigt es natürlich, dass es auch zum nächsten Schritt kommt. Aber es gibt immer noch zu viele unbekannte Variablen, die ich schlecht einschätzen kann. Zum Beispiel Druck aus dem Management oder die in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnten Dynamiken zwischen den Spielern in den Umkleidekabinen und Mannschaftsduschen. Ganz persönlich glaube ich allerdings, für die Mitspieler könnte der schwule Kollege auch recht schnell Normalität werden und erstes Unbehagen in der Dusche dann doch auch bald abgebaut werden. Das erfordert natürlich Kommunikation in der Mannschaft. Der schwule Spieler muss die Ängste, die er bei den Kollegen vermutet, ganz konkret und explizit benennen und dadurch langsam abbauen. Aber es gibt viele private Beispiele, dass das in Männergruppen funktionieren kann.
Eine abschließende Frage zu diesem bemerkenswerten Ereignis. Wir wissen heute, dass der Schritt von Thomas Hitzlsperger von langer Hand vorbereitet war, und er sich die Hilfe einer professionellen Kommunikationsagentur eingeholt hat. Würdest du die Sache als gelungen bezeichnen?
Auf jeden Fall. Das sieht man ja an der Medienresonanz und dem Medientenor, die sicherlich so ausgesehen haben, wie Hitzlsperger und seine Agentur sich das vorher gewünscht haben. Viele Journalisten haben allerdings leider sehr zähneknirschend feststellen müssen, dass das Outing eine sehr exklusive Veranstaltung war. Nach dem Interview in der ZEIT und der eigenen Videobotschaft war Hitzlsperger für niemanden erreichbar. Kommunikationsstrategisch war das von der Agentur allerdings elegant gelöst, weil Hitzlsperger dadurch auch nicht die Chance hatte, irgendwo noch etwas dummes in ein Mikrofon zu sagen oder nervös die Fassung zu verlieren. Der genialste Schachzug war eigentlich das vorproduzierte Video. Alle Nachrichtensendungen und Magazine mussten – mangels Erreichbarkeit und Interviewbereitschaft – zwangsläufig auf dieses Video und die Aussagen darin zurückgreifen. Das haben die Medien auch getan und damit ein sehr souveränes und positives Bild von Hitzlsperger nach außen getragen.
Vielen Dank für das Gespräch!